Von Nicole Thurn in The Red Bulettin INNOVATOR
Kein Chef, keine Zeiterfassung, kein Büro. Dafür Freude, Sinn und hohe Produktivität. Wieso immer mehr Unternehmen mit Traditionen brechen (müssen) und wo «New Work»-Trends bereits erfolgreich sind.
Was ist New Work?
Unter dem Begriff «New Work» werden unterschiedlichste Ansätze, unsere Arbeitswelt nachhaltig zu verändern, zusammengefasst. Das gemeinsame Ziel: mehr Produktivität durch mehr Individualität.
Klassische Hierarchien, fixe Arbeitszeiten im Büro und ein Beruf für dreissig Jahre: Die Arbeitswelt, wie wir sie einst kannten, kommt an ihr Ende. Spätestens die Pandemie und die dadurch ausgelöste kollektive Homeofficierung haben gezeigt: Arbeiten geht auch anders. Gerade die Jungen wollen starre, unreflektierte Berufsstrukturen aufbrechen und die Burnouts ihrer Eltern nicht wiederholen. Sie fordern erfüllende Jobs mit Sinn und mehr Freizeit für Selbstverwirklichung. Gleichzeitig müssen Unternehmen schneller, innovativer und risikobereiter handeln, wenn sie bestehen wollen.
Für den Wandel in der Arbeitswelt verwenden immer mehr Unternehmen und Experten den Begriff «New Work», also «neues Arbeiten». Ein einheitliches Verständnis gibt es nicht, gemeint ist damit vieles: vom Kickertisch und Yogakurs am Arbeitsplatz über digitales Arbeiten ohne Büro bis hin zum Selberentscheiden ganz ohne Chefs. Und in Wahrheit ist der Begriff auch nicht neu: Bereits 1982 beschrieb der Arbeitsphilosoph Frithjof Bergmann mit «New Work» ein Gesellschaftskonzept, das auf selbst bestimmter Arbeit beruht, «die man wirklich, wirklich will».
Arbeit mal anders: Noch sind so manche Experimente zu New Work in Unternehmen etwas zaghaft, andere wiederum überzogen radikal. Im Idealfall ist New Work ein echter Bewusstseinswandel: mit neuen Werten und einem neuen Menschenbild. Dann sind Sinn, Erfüllung und Potenzialentfaltung im Job wichtiger als Status und Geld, die Mitarbeiter werden zu Mitgestaltern, ihre individuellen Bedürfnisse zählen ebenso wie der Teamerfolg. New Work verspricht eine bessere Zusammenarbeit, bessere Ergebnisse, mehr Innovation und glücklichere Mitarbeiter. In der Theorie zumindest. Denn wie es mit Experimenten so ist: Sie können auch schiefgehen.
Das Ende sinnloser Tätigkeiten
Sinn im Job macht glücklicher und produktiver – und wird so für Firmen zur goldenen Währung.
Wie sinnvoll ist mein Job? Das fragen sich immer mehr Menschen. Laut dem deutschen Zukunftsinstitut zählt der Sinn bei der Jobwahl für 87 Prozent der Millennials deutlich mehr als ein gutes Gehalt (55 %). Unternehmen müssen also sinnvolle Jobs bieten, wenn sie bei Bewerbern gefragt sein wollen. Laut dem US-Psychologen Adam Grant finden Menschen dann Sinn im Job, wenn sie ihre Aufgaben mit ihren Stärken und Interessen verbinden.
Trotz Digitalisierung und Automatisierung seien sinnlose «Bullshit-Jobs» in Unternehmen verbreitet, schreibt David Graeber in seinem gleichnamigen Buch. Allein mit dem Streichen ineffizienter Meetings könnten Konzerne laut einer Studie von TimeInvest jährlich 57 Millionen Euro einsparen. Sinn als Teil von New Work zu forcieren ergibt buchstäblich Sinn: Denn er macht uns motivierter, produktiver, glücklicher und gesünder.
Das Ende der Büros
Büros werden künftig völlig neue Aufgaben erfüllen – und zum Teil sogar komplett verschwinden.
Derzeit sind die Büros halb leer – und das wird in vielen Unternehmen auch so bleiben. Denn die Pandemie verändert auch die Rolle des Büros. Früher Dreh- und Angelpunkt des Arbeitsalltags, wird es immer mehr zum Ort für den sozialen und kreativen Austausch, für Brainstormings, Events und Workshops, während die Mitarbeiter mal dort, mal zu Hause, im Coworking-Space oder vom Campervan aus arbeiten. Diese Flexibilität wird von Arbeitgebern auch erwartet: Der Grossteil der Büroarbeiter in der Schweiz wünscht sich hybrides Arbeiten mit ein bis zwei Homeoffice-Tagen pro Woche.
So manches Start-up wurde während der Pandemie sogar komplett bürolos und ortsunabhängig als «Remote Company» gegründet. Beides, hybrides Arbeiten und «Remote Work», bringt neue Herausforderungen mit sich. Um Ablenkungen, Missverständnisse, Ineffizienzen und Frust zu vermeiden, bedarf es klarer Kommunikationsregeln für alle. Der Trend ist gekommen, um zu bleiben: Die Beratung McKinsey rechnet in ihrer Analyse mit dreimal so viel remote und hybrid Arbeitenden nach der Pandemie wie davor.
Das Ende vom Stress in der Arbeit
Meetings, Mails, Messages: Digitaler Stress nervt. Künftig helfen gehirngerechte Arbeitsphasen.
Die neue Arbeitswelt könnte dank der Digitalisierung einfacher sein. Doch Arbeitsbelastung und subjektives Stressempfinden steigen. Schuld daran sind Unterbrechungen. Wir werden laut einer Studie der University of California alle elf Minuten unterbrochen: von aufpoppenden Mails, Nachrichten auf WhatsApp oder Slack, von Online-Meetings und Kundenanrufen. Die Crux an der Sache: Wir benötigen ganze 23 Minuten, um wieder in die Aufgabe reinzufinden. Unser Gehirn arbeitet im permanenten Unterbrechungsmodus – und hat das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.
«Das versuchen wir mit Multitasking zu kompensieren», sagt Organisationsberaterin Vera Starker, die mit «The Focused Company» mehr Konzentration in die Unternehmen bringt. Das wiederum verschlechtert die Qualität der Arbeit. Cal Newports Buch «Deep Work» kommt hier wie ein Heilsbringer für das digitale Zeitalter daher. Er sagt: Die Kunst, sich länger in eine einzige Aufgabe zu vertiefen, unterscheidet künftig die Erfolgreichen von den Nicht-Erfolgreichen.
Vera Starker setzt auf «Deep Work», also Fokuszeit ohne Unterbrechungen. Unternehmen sollten die Arbeitsabläufe bewusster am Menschen orientieren: «etwa am Biorhythmus und an der Konzentrationsfähigkeit, die sich über den Tag verändert». So sei in kurzer Zeit viel produktiveres Arbeiten möglich als bisher – und auch die Zufriedenheit steigt. New Work muss sich also am Menschen orientieren – sonst geht der Schuss nach hinten los.
Das Ende der Gehaltsklassen
Welchen Wert hat Arbeit, wenn das Ergebnis zählt und Führung abgeschafft wird? New Work braucht eine Neuvermessung von Leistung und Gehalt. Der Nine-to-five-Job galt seit der Einführung der 40-Stunden-Woche als Klassiker in den Angestelltenjobs: Man leistet zur vorgegebenen Arbeitszeit, auf das Konto bekommt man, was der Vertrag vorsieht. Individuelle Leistung zählt, das Management bestimmt über Gehaltserhöhungen. Die Frage, wer wie viel verdient, ist tabu. Wer aufsteigt, bekommt mit mehr Verantwortung auch mehr Gehalt.
Bei neuen Arbeits- und Organisationsformen wirkt das traditionelle Leistungsprinzip schnell überholt. Neue Fragen tun sich auf: Wenn die Teamleistung zählt, wenn Führungspositionen abgeschafft werden und Verantwortung auf viele verteilt wird, sind Gehaltsunterschiede überhaupt noch fair? Wenn Mitarbeiter verschiedenste Rollen und Aufgaben übernehmen, nach welchen Tarif- bzw. Kollektivverträgen soll man sie entlohnen? Was ist Leistung überhaupt, wie viel ist der eigene Beitrag wert, was ist faire Entlohnung – und wer bestimmt darüber?
Die Autoren Sven Franke, Stefanie Hornung und Nadine Nobile beschreiben in ihrem Buch «New Pay» alternative Vergütungsmodelle von Unternehmen, die New Work umgesetzt haben: mit flachen Hierarchien, selbst organisierten Teams und viel Mitsprache.
In der Realität sieht das sehr vielfältig aus: Die einen setzen auf Einheitsgehalt für alle, andere auf individuelle Wunschgehälter. Die nächsten bieten 30-Stunden- oder 4-Tage-Wochen und bezahlen ein Vollzeitgehalt. Die Richtung scheint zu stimmen, denn diverse Studien zeigen: Dauerhaftes Engagement lässt sich mit Geld nicht kaufen.
30 Stunden sind genug
Die österreichische Agentur eMagnetix lockt Bewerber mit 30-Stunden und 4-Tage-Woche bei vollem Gehalt.
Die Marketing-Agentur eMagnetix bei Linz hatte ein Problem: «Oft kamen nur zehn Bewerber auf einen offenen Job», erzählt CEO Klaus Hochreiter. Um für junge Talente attraktiver zu werden, führte er mit den Mitarbeitern im Herbst 2018 die 30-Stunden-Woche ein – inklusive Gleitzeit. «Manche Kunden mussten wir beruhigen, die meisten reagierten aber positiv: Denn die Qualität unserer Arbeit nahm sogar zu», so Hochreiter. Nicht nur wegen der längeren Erholungsphasen: «Wir haben unsere Abläufe und Meetings effizienter gestaltet.» Seit kurzem gibt es die optionale Vier-Tage-Woche: Die 30 Stunden können wochenweise auf vier oder fünf Tage verteilt werden, Montag oder Freitag dürfen entfallen. Für die Kunden gibt es ein Notfalltelefon.
Einheitslohn für alle
Das Startup Advertima aus St. Gallen führte den Einheitslohn ein – und schaffte ihn wieder ab.
Beim Tech-Startup Advertima experimentierte Co-Founder Iman Nahvi seit der Gründung 2016 mit dem Einheitslohn. Die Gründer verdienten dasselbe, «das wollten wir auch für unsere Mitarbeiter». Der Einheitslohn kam bei der damals jungen Belegschaft gut an – «es war fair, wir alle hatten ähnliche Ausbildungen», sagt Nahvi. Bis man angesichts des Wachstums beschloss, erfahrene Seniors ein zustellen: «Unsere Mitbewerber sind Facebook und Google, hier konnten wir mit dem Einheitslohn nicht mithalten», sagt Nahvi. 2018 wurden die Mitarbeiter in marktkonforme Gehaltsschemata eingestuft. Lohnkürzungen gab es nicht: «Dadurch war die Umstellung kein Problem.»
Wunschgehalt aus dem Lohntopf
In der Berliner Agentur Wigwam bestimmen die Mitarbeiter ihr Wunschgehalt. Bei der Berliner Organisationsberatung und Genossenschaft Wigwam dürfen alle Mitarbeiter ihr Gehalt selbst wählen – bis hin zur Reinigungskraft. Und ganz ohne Verhandlung. In Gehälterrunden geben alle Mitarbeiter ihr Wunschgehalt an. «Begründet werden muss die Höhe nicht», sagt Projektmanagerin Amelie Salameh. Wer in den Vorstand wechselt, bekommt weiterhin dasselbe bezahlt. Um profitabel zu bleiben, gibt es einen Lohntopf, ein Algorithmus verteilt prozentuell: «Im Moment werden 94 Prozent des Wunschgehalts ausbezahlt.» Aufgrund der Beteiligung an der Genossenschaft ist die Motivation hoch. Übertriebene Gehaltswünsche gibt es nicht, denn «dann bekämen alle anderen weniger», sagt Amelie. Im Gegenteil, Gehaltslücken schliessen sich: «Die Wünsche gleichen sich immer mehr an.»
Das Ende des Doppellebens
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen? Künftig beides gleichzeitig: In der Wissensgesellschaft verschmelzen Beruf und Freizeit. Noch vor einigen Jahren sprach man von «Work-Life-Balance». Tagsüber tat man die mehr oder minder beschwerliche Arbeit, nach Feierabend und am Wochenende wartete das Leben. Diese Haltung ist dank Digitalisierung und nicht zuletzt aufgrund der pandemiebedingten «Homeofficierung» in Wissens- und Kreativjobs schwieriger geworden. Arbeit und Privatleben verschmelzen im «Work-Life-Blending»: Zwischen Projektplan und Meeting wird der Haushalt erledigt, das Kind betreut und zu Feierabend der Report geschrieben.
Dem tückischen Always-on im Homeoffice entkommen viele nicht. Abschalten abends fällt schwer, Zoom-Ermüdung und Rückenschmerzen kommen hinzu, gerade wenn ein eigener Büroraum fehlt. Als Antwort auf diese Entwicklung entstehen immer mehr gut ausgestattete Coworking-Spaces in der Stadt, aber auch auf dem Land. Dass Leben und Arbeiten auch zur positiven Symbiose verschmelzen können, machen skandinavische Unternehmen vor. Dort finden sich nicht nur kaum Überstunden, sondern eine generell andere Haltung: Das Ergebnis im Job muss stimmen, doch das Privatleben ist genauso wichtig. Während der Arbeitszeit das Kind abzuholen, zum Stressausgleich in den Yogakurs oder mal zur Geburtstagsfeier auszurücken, regt dort niemanden auf. Die Arbeit ist Teil des Lebens, das Leben Teil der Arbeit.
Arbeiten verschmilzt auch zusehends mit Urlaub: Dann betreut man als digitaler Nomade auf Weltreise an Stränden seine Kunden oder arbeitet mit Kollegen auf kurzen «Workations» am Meer. Auch Wohnen und Arbeiten bekommt eine neue gemeinsame Dimension ausserhalb des Homeoffice: In «Coliving»- und Coworking-Appartements wohnen digitale Nomaden oder ausländische Expat-Manager zusammen, auch Hotels setzen zunehmend auf Coworking Spaces. Und manche gründen sogar mit ihren Arbeitskollegen ein Dorf.
Das Ende der Alphatiere
Der alles kontrollierende Manager wird im 21. Jahrhundert zu einer seltenen Spezies. Führung bleibt wichtig, aber anders: Leader ermutigen ihre Teams, selbst zu entscheiden. Im 20. Jahrhundert hatte «der Chef» das Sagen. Er schaffte an, kontrollierte und entschied – oft im Alleingang. Die Mitarbeiter führten Befehle und Aufträge aus. Allerdings: Die machtbewussten «Alphatiere» mit steiler Karriere werden im 21. Jahrhundert zur Rarität. Befeuert von der Digitalisierung, verflachen Hierarchien, es zählen rasche Ergebnisse und innovative Produkte – jede Entscheidung absegnen zu lassen ist ineffizient. Der Anspruch an Führung verändert sich somit: Anstelle von Managern sind «Leader» gefragt. Sie befähigen ihre Teams, selbst zu entscheiden, geben ihnen Freiraum und inspirieren. Für viele Führungskräfte ist das eine Umstellung: Sie müssen Kontrolle und Macht loslassen und lernen, ihren Mitarbeitern zu vertrauen und Fehler zuzulassen.
Wer noch mehr über die Pioniere dieser New Work Trends erfahren möchte, findet die Infos hier.